Vernetztes Wohnen

Ein sogenanntes Smart Home besteht aus Apparaten und Hausgeräten, die mit Computerprogrammen arbeiten. Dazu gehören beispielsweise sprachgesteuerte Lampen und Heizungen, Saugroboter, die selbstständig die Wohnung reinigen, oder Sprachassistenten, die ihnen gestellte Fragen beantworten und Geräte steuern können.

Anna und der Bankraub

Anna ist verschwunden. Als besorgte Nachbarn in ihrem vernetzten Zuhause nach Anna suchen, geben die smarten Geräte bereitwillig Auskunft über ihr Leben. Doch dann läuft die Sache aus dem Ruder. 

„Hände hoch! Keine Bewegung!“

Etwa ein Dutzend Polizisten springen aus den Einsatzwagen vor der Bankfiliale. Sie richten ihre Schusswaffen auf Anna und auf die Frau im Rollstuhl. Anna lässt die Griffe des Rollstuhls los und hebt ihre Hände. Auch die ältere Dame im Rollstuhl streckt ihre Hände in die Höhe, woraufhin sie auf dem leicht abschüssigen Platz langsam vorwärts rollt. Ein Beamter bremst schließlich ihre Fahrt.

Eine Polizeibeamtin nähert sich Anna und durchsucht sie nach Waffen. Anna rührt sich nicht. Sie muss an alle Versehentlich-von-der-Polizei-erschossen-Geschichten denken, die sie jemals gesehen hat, ob in den Fernsehnachrichten oder in amerikanischen TV-Serien.

Zehn Stunden zuvor

Eine ganze Weile steht der junge Mann schon im Hausflur vor Annas Wohnung herum und fummelte an seinem Smartphone, das permanent Misserfolgs-Sounds produziert. Herr Wissmann, Annas Nachbar, der die Szenerie durch den Türspion beobachtet hat, öffnet seine Wohnungstür.

„Hallo?! Was machen Sie da?“
„Ich mache mir Sorgen“, antwortet der junge Mann und drückt weiter auf dem Display seines Telefons herum. Dann schaut er Herrn Wissmann an.
„Wie lange haben Sie Anna nicht mehr gesehen?“
„Hmm, bestimmt eine Woche, vielleicht länger“, antwortet Wissmann, bevor er sich darüber ärgert, wie schnell er sich das Gespräch hat aus der Hand nehmen lassen. Mit forderndem Tonfall fragt er: „Wer sind Sie denn überhaupt?“
„Ich arbeite mit Anna zusammen. Ich heiße Oliver“, sagt Oliver und streckt Herrn Wissmann seine Hand hin. „Wissman“, antwortet Wissmann während er die Hand schüttelt, „warum machen Sie sich denn Sorgen?“
„Anna arbeitet als freie Mitarbeiterin in der Firma, in der ich angestellt bin. Vor zwei Wochen schrieb sie eine E-Mail, sie käme erstmal nicht zur Arbeit. Und dann kam gar nichts mehr. Funkstille.“
„Und?“
„Vor einer Woche fing ich an, mir Sorgen zu machen und habe ihr Handy angepeilt.“
„Angepeilt? Wie angepeilt?!“
„Anna hat auf ihrem PC ein Programm installiert, das ihr Smartphone orten kann, falls es  mal geklaut wird.“
„Und? Ist es geklaut?“
„Nein.. Ja….“
„Also was?“
„Ich bin der System-Admin, und ich kann auf ihren PC zugreifen und auf die Programme…“
„Aha!“ Wissmann dämmert, dass hier irgendetwas nicht ganz sauber ist.
„Und da habe ich das Ortungsprogramm gestartet…“
„Aha! Ohne Annas Erlaubnis und ohne ihr Wissen, vermute ich?“
„Aber das ist doch jetzt nicht wichtig“, sagt Oliver schnell, „wichtig ist: Das Programm verortet Annas Telefon seit einer Woche in dieser Wohnung. Es bewegt sich nicht vom Fleck. Nie. Kein Stück.“
Das ist in der Tat seltsam, findet auch Wissmann, denn Anna gehört zu den Zeitgenossen, die man sich ohne Smartphone in der Hand gar nicht vorstellen kann.
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten“, sagt Oliver, „entweder Anna ist seit mindestens einer Woche irgendwo ohne ihr Smartphone unterwegs oder sie hat seit mindestens einer Woche ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Beide Möglichkeiten bereiten mir Sorgen.“
„Da haben Sie allerdings Recht“, sagt Wissmann nachdenklich.
„Anna hat ihre Wohnung kürzlich fast vollständig vernetzt. Das hat sie mir erzählt. Auch das Wohnungsschloss. Ich versuche das gerade mit einer App zu überlisten, aber es funktioniert nicht…“

Wissmann verschwindet kurz in seiner Wohnung und kehrt mit einem Schlüssel in der Hand zurück.

„Anna hat mir ihren Wohnungsschlüssel anvertraut, für Notfälle“, sagt Wissmann, als er die Tür aufschließt, „und das ist jetzt ja so eine Art Notfall. Also… hoffentlich nicht…“

Vorsichtig betreten Oliver und Herr Wissmann die Wohnung.  Aus dem Nichts begrüßt sie freundlich eine weibliche Stimme: „Guten Tag!“

„Anna?“, fragt Wissmann verunsichert.
„Ich heiße Cassandra“, antwortet die Stimme.
„Das ist nur einer dieser vernetzten Lautsprecher“, erklärt Oliver dem irritierten Wissmann.
„Cassandra! Alle Lichter an!“, befielt Oliver. Mit einem Schlag ist die Wohnung hell erleuchtet.

Von Anna fehlt jede Spur. Ihr Handy liegt auf dem Wohnzimmertisch am Ladegerät. Oliver versucht vergeblich, den Fingerabdrucksensor und die Gesichtserkennung zu überlisten. Dann wendet er sich dem schwarzen, dosenförmigen Gegenstand im Wohnzimmerregal zu.

„Cassandra! Welches Programm habe ich zuletzt genutzt?“

Das Multimedia-Display an der Wand spingt an und zeigt einen E-Book-Reader.

„Moment“, sagt Wissmann irritiert, „das waren doch nicht Sie, sondern Anna, oder?“
„Jaja, diese Kisten sind ziemlich dumm. Sie erkennen zwar Sprachbefehle, aber keine unterschiedlichen Stimmen.“
„Ach?“ Wissmann scheint fast ein wenig enttäuscht.
„Cassandra! Welches Buch habe ich zuletzt gelesen?“
„Du hast dieses Buch auf deinen Reader geladen“, antwortet Cassandra freundlich und zeigt den Buchumschlag an.
„Leben mit Moxofibrose“, entziffert Wissmann, während Oliver den Begriff bereits in der Wikipedia nachschlägt.
„Oh, das ist eine fiese Krankheit“, sagt Oliver, „Muskelschwund, Bettlägerigkeit, unheilbar…“
„Anna wird doch nicht so schwer erkrankt sein…?“, fragt Wissmann erschrocken.
„Und wenn ja, wo ist sie dann hin? Ohne ihr Telefon…?“, fragt Oliver nicht minder erschrocken.
„Sie wird sich doch hoffentlich nichts… also…“, stammelt Wissmann.

Beide sehen sich betreten an.

„Wir müssen die Polizei rufen!“, sagt Wissmann.
„Ja. Nein. Die Polizei kann ohne Hinweise auch nicht viel machen. Und Hinweise suchen wir ja gerade.“
„Na gut, machen Sie weiter!“
„Cassandra! Öffne die letzte Webseite!“

Auf dem Wand-Display öffnete ein Webbrowser die Satellitenansicht eines Kartendienstes. Darauf markiert, die örtliche Filiale eines Bankhauses, am Stadtrand gelegen. In einer Info-Box:

„Vorraussichtliche Parkplatzauslastung am 14.11., 9:00 bis 10:00 Uhr: gering.“
„Das ist morgen früh“, stellt Oliver fest. Beide sind ratlos. Warum interessierte sich Anna für die Parkplatzsituation einer Vorstadtbank? Sie fährt doch immer nur mit Bus und U-Bahn.
„Cassandra! Die Webseite davor!“

Auf dem Display entsteht der Online-Shop eines großen Versandhandels.

„Den Shop kenne ich! Klicken sie auf ‘meine Bestellungen’!“, befielt Wissmann, froh darüber, sich auch mal mit etwas auszukennen.

Der Browser zeigt die letzten beiden Bestellungen Annas an: eine nahezu echt aussehende Schreckschusspistole und eine fast völlig geschlossene Sturmhaube, die lediglich eine Öffnung für die Augen besitzt.

Oliver traut sich als erster, es auszusprechen: „Anna will die Bank ausrauben!“
„Ja“, stimmt Wissmann zu, „und zwar morgen früh zwischen neun und zehn“.
„Weil sie krank ist und ihr deswegen alles egal ist“, schließt Oliver.

Da ist Herr Wissmann schon in seine Wohnung geeilt, um die Polizei zu rufen.

Zehn Stunden später

„Lassen Sie mich los, ich kann das alleine!“ Die ältere Dame im Rollstuhl ist gar nicht begeistert davon, dass ein Polizeibeamter sie Richtung Einsatzwagen schieben will.
„Was wollen Sie denn von meiner Tante Doris?!“, fragt Anna empört in die Beamtenrunde, „und was wollen Sie überhaupt von mir?“

Als die Polizeibeamtin mit der Leibesvisitation fertig ist und in Richtung ihrer Kollegen den Kopf schüttelt, darf Anna endlich ihre Arme senken. Aus einem der Einsatzwagen klettern Oliver und Herr Wissmann. Anna schaut die beiden entgeistert an.

„Das tut mir so leid mit Ihrer Krankheit“, sagt Wissmann zu Anna.
„Was für eine Krankheit?“, fragt Anna.
„Na, Moxofibrose… “, sagt Oliver.
„Wie kommt Ihr denn darauf? Mein Onkel Jakob ist kürzlich daran erkrankt, der Mann meiner Tante“, sagt Anna und deutet auf die ältere Dame im Rollstuhl.
„Deswegen wollten Sie beide also zusammen die Bank überfallen“, will die Polizeibeamtin wissen.
„Was, bitte!? Ist hier irgendwo eine versteckte Kamera?“ Anna wird wütend.
Die Polizeibeamtin versucht die Ruhe zu behalten: „Was wollten Sie denn beide hier in der Bankfiliale?“
„Meine Tante muss hier ein paar Sparverträge auflösen. Ihr Mann musste in ein Sanatorium, und das ist nicht billig.“
„Und deswegen haben Sie die Bank auf einer Satellitenkarte angeschaut?“, fragt Wissmann?
„Ja, ich wollte wissen, ob es hier eine Rollstuhlrampe gibt. Woher wisst Ihr das überhaupt?“
„Und die Schreckschusspistole“, platzt es aus Oliver heraus, „warum hast Du die gekauft?“
„Meine Tante ist jetzt doch ganz alleine im Haus. Da hat sie sich eine Waffe gewünscht um sich sicherer zu fühlen.“

Empört meldet sich die ältere Dame zu Wort: „Wie? Schreckschusspistole? Die ist gar nicht echt? Ich wollte eine richtige Waffe! Wie im Fernsehen!“
„Schon gut, Tante Doris“, seufzt Anna, „natürlich ist die Pistole echt!“
„Und die Sturmhaube?“, will Herr Wissmann wissen?
„Es wird Winter. Ich habe mich zum Halbmarathon im Frühjahr angemeldet. Wie soll ich denn den Winter durchtrainieren, ohne Gesichtsschutz?“

Oliver und Wissmann sehen sich betreten an.

„Aber Dein Handy. Du bist ohne Handy unterwegs!“ Oliver klingt schon fast ein wenig verzweifelt.
„Nein, bin ich nicht!“, sagt Anna ungehalten. „Ich habe neuerdings ein Zweitgerät, von dem nur meine engen Freunde wissen. Ich will nicht immer für die Arbeit erreichbar sein!“
„Und in den letzten zwei Wochen waren sie…?“, fragt Wissmann schüchtern.
„… habe ich meiner Tante geholfen! Weil ihr Mann doch jetzt im Sanatorium ist!“

Auch die Polizistin sieht jetzt betreten auf den Boden. Die übrigen Beamten haben längst eine entspannte Körperhaltung eingenommen und warten offenbar nur noch auf den Befehl zur Abfahrt.

„Wie seid Ihr denn auf den ganzen Quatsch gekommen? Wer erzählt Euch so was?“, will Anna wissen.

Kleinlaut antwortet Oliver: „Cassandra.“


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