Beobachtet und Bewertet

Tracking (Nachverfolgen) und Scoring (Bewerten) sind Fachworte für das, was Werbetreibende und die Macherinnen und Macher von Online-Angeboten tun. Unser Verhalten wird von Plattformen, Apps und anderen Diensten im Internet in großem Maßstab beobachtet und bewertet.

Anna und der Influencer

Annas Freund Olli hat genau verstanden, wie sich das Tracking seines Verhaltens auf sein Leben auswirkt. Auf einmal genießt er überall Vorzugsbehandlungen. Er weiht Anna darin ein, wie er das hinbekommt. Aber eine Auswirkung überrascht ihn dann doch zutiefst.

Die Terrasse des Café Carma ist nicht einfach voll, die Menge der Gäste ist vielmehr hoch verdichtet. Wildfremde Menschen platziert das Personal zu sechst an Vierertischen; trotzdem warten noch Dutzende darauf, einen Platz zugewiesen zu bekommen.

Es ist paradox, denkt Anna, als sie sich suchend zwischen den vollbesetzten Tischen hindurch schiebt, wenn ein nettes Lokal erst mal in allen Reiseführern und Ausgehlisten auftaucht, ist es ab sofort kein nettes Lokal mehr. Endlich entdeckt sie Olli – und er sie. Breit grinsend fläzt Olli sich an einem Vierertisch herum – ganz alleine. Er winkt Anna zu sich.

„Schön, dich zu sehen”, sagt Olli, „ich glaube, wir haben uns ein halbes Jahr nicht mehr getroffen. Kann das sein?”
„Ja, möglich”, sagt Anna. Wie bist du dann an diesen Tisch gekommen? Und warum lassen sie dich hier alleine sitzen?”
„Och, in letzter Zeit habe ich oft Glück in der Gastronomie”, sagt Olli geheimnisvoll.

Anna sieht ihn irritiert an. Olli ist so etwas wie ein moderner Bohemian. Er schreibt Kurzgeschichten, die er im Netz veröffentlicht – und die niemanden wirklich interessieren, er fotografiert auf mittelmäßigem Niveau, und er jobbt immer irgendwo in der Kreativbranche herum, selten über dem Hilfskräfte-Status. Geld ist stets knapp. Dass er im angesagtesten Café der Stadt eine Vorzugsbehandlung genießt, passt überhaupt nicht zu seinem Profil.

„Lass uns gehen! Ich habe einen Tisch im Okra reserviert.”
Olli greift Annas Hand und zieht sie hinter sich her durch die überfüllte Terrasse auf die Straße.

„Niemand bekommt mal eben einen Tisch im Okra!” Anna schaut Olli ungläubig an. „Die haben bestimmt eine Warteliste von Monaten. Hast du die bestochen? Und: womit?”

Olli bereitet Annas Verwunderung offensichtlich große Freude. Er beantwortet ihre Fragen mit wolkigen Andeutungen und ironisch-undurchsichtigen Blicken. Irgendwann ist das Anna zu blöd und sie schmollt. Die beiden machen sich zu Fuß auf den Weg ins Okra.

Unterwegs kommen sie an einem Feinkostgeschäft vorbei.

„Moment, die Auberginen sehen toll aus.” Anna wählt zwei Früchte aus der Auslage und wiegt sie an der SB-Kasse. Die Kasse scannt Annas Gesicht und zeigt den Preis an: 17,08.

„Halt, ich übernehme das.” Olli schiebt Anna zur Seite, storniert den Vorgang und startet ihn erneut. Dieses Mal scannt die Kasse Ollis Gesicht und zeigt wieder einen Preis an: 5,93. Olli zahlt mit einem Augenzwinkern in Richtung Gesichtsscanner. Anna ist sprachlos. Was ist mit Olli passiert? Warum bekommt er einen Rabatt auf das Gemüse als würde ihm der Laden gehören?

Die beiden betreten das Okra. Nach einem kurzen Gesichtsscan führt der Kellner sie an einen der besten Tische. Anna und Olli geben ihre Bestellungen auf. Dann kann Anna ihre Neugier nicht mehr zügeln:

„Los, jetzt sag! Was ist dir passiert, dass du plötzlich mit Vorzugsbehandlungen durchs Leben gleitest?”
Olli beugt sich zu Anna vor und senkt die Stimme. Hast du schon mal was von Status-Pushing gehört?”
„Ja. Aber das funktioniert doch nicht, oder? Das ist doch Esoterik. Und es ist außerdem irgendwie verboten. Oder nicht?”
„Wie kann es verboten sein, sein eigenes Verhalten zu ändern? Status-Pushing ist nichts anderes!”
„Olli! Bitte von Anfang an!”

Olli im übertriebenen Tonfall eines Dokumentarfilmsprechers: „Seit einigen Jahren werden der Zugang zu Waren und zu Dienstleistungen sowie deren Preise für jeden Bürger individuell festgelegt, und laufend aktualisiert – auf Basis einer intelligenten Analyse ihres Konsumverhaltens, welche die ProScore AG erstellt.”
Anna: “Olli, bitte!”

Olli fährt ohne gekünstelte Stimme fort: „Eine Künstliche Intelligenz der ProScore AG schaut sich deine Einkäufe an, merkt sich, wohin du in Urlaub fährst, sieht, was du online so treibst, welche Musik dir gefällt, welche Romane und welche Filme. Diese KI weiß, mit wem du neuerdings befreundet bist und mit wem nicht mehr.”
„Ja”, sagt Anna ungeduldig. „Und?”
„Aus diesen Informationen erstellt diese KI dein Profil. Unternehmen können einzelne Werte daraus anfordern, aber nie das Ganze. Sie können bei ProScore anfragen, wie kreditwürdig du bist, wie zuverlässig, wie markentreu oder wie sprunghaft, wie wahrscheinlich es ist, dass du eine schlechte Erfahrung mit einem Produkt an deine Freunde weitererzählst oder eine gute…”
„Jajaja”, unterbricht Anna ihn, „ich komme ja nicht von einem anderen Planeten. Jetzt komm mal auf den Punkt, bitte!”
„Vor drei Monaten kam ich auf einer Party ins Gespräch mit einem Status-Pusher. Zuerst habe ich so reagiert wie du, dachte mir: Esoterik, Scharlatanerie, alles Quatsch. Aus Neugier habe ich mich aber am nächsten Tag mit ihm getroffen.”
„Und?”
„Er fragte mich nach einem Problem, das ich mit meinem aktuellen Status hätte. Ich erzählte ihm, ich ginge gerne gut essen, könnte mir das aber finanziell viel zu selten leisten.”

Daraufhin, so berichtet Olli weiter, habe der seltsame Berater ihm eine präzise Liste von Verhaltensanweisungen erstellt. Detailliert stand dort aufgelistet, was für Fotos er auf welchen Plattformen posten und in welchen Vereinen er Mitglied werden soll; was er in welchen Läden einkaufen und wie er sich auf Social Media über diese Einkäufe äußern soll; welche Bücher und Filme er wie bewerten soll. Hunderte Anweisungen aus Dutzenden Lebensbereichen.

Ollis Stimme wird noch leiser: „Und dann, irgendwann, als hätte es ‘Klick’ gemacht, bekam ich plötzlich riesengroße Rabatte in Feinkostläden und beste Plätze in allen angesagten Restaurants. Oft muss ich überhaupt nichts mehr bezahlen!”
„Wie kann das sein?!”
„Vermutlich hat die KI mich als mega-wichtigen Influencer für die Gastronomie-Branche eingestuft, als jemanden, dessen Empfehlungen auf sozialen Medien blind vertraut und befolgt werden. Und jedes Restaurant möchte gerne mega-wichtige Influencer als Gäste haben – als zufriedene Gäste.”
„Aber überprüfen die nicht, ob du auch wirklich… influenct?”
Olli grinst. „Offenbar nicht.”

Annas Handy klingelt.

„Oh. Das ist meine berufliche Nummer. Da muss ich rangehen. Moment!” Anna verlässt telefonierend das Restaurant.

Wie selbstverständlich setzt sich ein völlig unbekannter Mann auf Annas Platz und schaut Olli an.

Olli ist verwirrt: „Was zum..! Wer sind Sie?”
„Wir haben nicht viel Zeit! Das Telefonat wird Ihre Freundin genau dreieinhalb Minuten beschäftigen. Hören Sie mir zu!”

Olli sieht den Fremden erschrocken an.

„Ich arbeite für einen… Dienst… der für die Sicherheit des Landes zuständig ist. Unsere KI scannt die Bevölkerung ständig nach Terrorverdächtigen. Und bei Ihnen hat sie kürzlich Alarm geschlagen.”
„Ich? Ein Terrorist? So ein Quatsch.”
„Sie haben vor ungefähr drei Monaten Ihr Alltagsverhalten auffällig verändert. Das entspricht genau dem Muster eines Attentäters, der einen Anschlag plant und sich bemüht, besonders unauffällig zu sein.”
„Das ist ein Witz!”
„Sehe ich aus wie ein Komiker? Laut Dienstvorschrift müssen wir sie jetzt in Gewahrsam nehmen und verhören, so lange bis klar ist, was sich hinter Ihrer seltsamen Verhaltensänderung verbirgt.”
„Aber ich wollte doch nur… öfter mal gratis essen gehen… Ich bin doch kein Attentäter!”
Der Fremde schaut Olli prüfend an. „Das habe ich mir auch gedacht, als ich mir Ihre Datei angesehen habe. So handelt kein Terrorist.”
Olli atmet auf. „Na sehen Sie…”
„Aber was ich denke, spielt überhaupt keine Rolle”, sagt der Fremde in hartem Tonfall. „Die KI hat Sie als potenziellen Terroristen erkannt, also kommen Sie mit. Wenn Sie kooperieren, können Sie in zwei oder drei Monaten schon wieder auf freiem Fuß sein.”
„In zwei oder drei… Bitte! Das kann doch nicht…”

Panik steigt in Olli auf. Der Fremde schaut ihn ernst an.

„Offen gesagt habe ich auch keine Lust, meine Zeit mit Ihnen zu verplempern. Die KI ist eben manchmal etwas überempfindlich. Hm… Vielleicht gibt es eine Lösung.”

Olli schaut den Fremden flehend an. Der fährt ruhig fort: „Ich kann den Bericht über Sie einen Monat lang festhalten. In dieser Zeit haben Sie Gelegenheit, ihre alten Verhaltensmuster wieder anzunehmen. Danach wird die KI Sie erneut analysieren. Und falls Sie dann wieder ganz der Alte sind, wird sicherlich auch die Einstufung zum Terroristen verschwinden. Sollen wir das so machen?”

Olli nickt ängstlich. „Ja! Ja! Schon morgen… nein, heute werde ich mich wieder wie vor dem Status-Push verhalten! Ganz bestimmt! Versprochen!”
Der Mann steht auf. „Gut, sonst sehen wir uns in einem Monat wieder. Ich muss gehen, Ihre Freundin kommt zurück.”

Der Mann verlässt das Lokal. Fast gleichzeitig setzt sich Anna wieder an den Tisch.

„Entschuldigung, komischer Anruf war das…”, sagt Anna nachdenklich, dann sieht sie Olli an und erschrickt. „Was ist los? Was ist passiert?”

Olli steht das Entsetzen noch im Gesicht. Mit großen Augen starrt er vor sich hin.

„Olli?!”
Langsam fängt Olli sich. „Hier war gerade ein Mann… vom Geheimdienst…”, beginnt er zu erzählen.

Vor der Tür des Restaurants steht der Fremde und lauscht mit seinem Empfänger der Übertragung von Ollis Stimme: „… ich stehe unter Terrorverdacht, hat der gesagt…” Die Funkwanze, die er unbemerkt am Tisch angebracht hat, funktioniert prima.

Der fremde Mann, ein bei der ProScore AG fest angestellter SIG, ein Secret Influencer Guide, lächelt. Das Profil von Olli hatte ihm vor Monaten verraten, dass er solch aufregende Begegnungen sofort weitererzählen würde, an alle seine Freunde, immer wieder. Und genau damit hat Olli nun begonnen.

Das System der ProScore AG gegen Status-Pusher und sonstige Profilbetrüger zu sichern, ist nicht leicht. Das Unternehmen hatte schon Mahnschreiben ausprobiert und Appelle an die Ehrlichkeit der Bürger. Beides mit überschaubarem Erfolg. Aber diese neue Methode entwickelt sich recht vielversprechend. Ein falscher Berater, der das Datensubjekt vom Nutzen eines Status-Pushes überzeugt, ein kurzfristiges Profil-Upgrade, das Spaß und materielle Freude mit sich bringt, dann plötzlicher Auftritt des Secret Influencer Guide und ein kalter Schock, die Aussicht auf Gefängnis und Verhöre: In Summe reicht das völlig, um in der Bevölkerung Geschichten und Gerüchte kursieren zu lassen, die Unsicherheit und Angst vor jeder Status-Manipulation verbreiten. So kann die ProScore AG die Bevölkerung mit vergleichsweise einfachen Mitteln davon abhalten, das System zu überlisten.

Olli ist wirklich ein Influencer. Nur nicht so, wie er es gern wäre.


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