Anna und die Anderen

Einige Jahre in der Zukunft: Eine neue App führt Annas ganz persönliches und soziales Leben zusammen – mit einem ICH-Menü und einem für ANDERE. So kann sie reibungslos, einfach per Tastendruck ihre Beziehungen optimieren und Konflikte managen. Manche jedenfalls.

Anna kuschelte sich wieder tief in ihre Bettdecke. Vor einigen Monaten hatte sie jemanden kennengelernt. Jonas. Es war aufregend. Sie wollte diesen Mann küssen, wieder und wieder.

Jonas wollte das auf einmal nicht mehr. Anna hatte sich das zwischen ihnen wohl alles nur eingebildet. Sie griff zu ihrem Telefon.

„Sehnsucht“, erklärte Anna ihrer App. Sie fuhr mit ihrem Finger den Regler auf 80. 80 von 100 Sehnsucht.

Wonach?“ – „Jonas.“ – „Jonas. Jonas. Was?“, fragte die App.

„Wie, was?“, fragte Anna. „Ja, wonach an ihm?“ – Seine Hände, seine Augen, seine Unabhängigkeit… lebendig… er überraschte sie, immer wieder, dachte sie.

Die App bot an: Sehnsucht nach: ihn hören, mit ihm etwas hören, angucken, berühren, zuhören, lachen, planen, Sex, kuscheln. Diese Kategorien waren noch bescheuerter als die Arbeitsamt-Formulare.

Anna klickte Sex, Lachen und Planen an. Die App hatte ihr Zögern, die Reihenfolge und die Festigkeit ihres Drucks auf dem Display analysiert. Daraufhin erschienen die Begriffe in unterschiedlichen Farben. Die körperliche Liebe wurde hellblau, Lachen pink, Planen grün.

Neue Begriffe tauchten auf: Zähneputzen, Erbsen aussuchen, Kochen. Lila, rosa, gelb.

Anna klickte gelb – Kochen – und erhielt eine neue Auswahl: Steak kochen, Curry schnibbeln, Gurkensalat, Petersilie trocknen, Vitamin C-Tabletten, Plätzchenteig ausrollen. All diese Begriffe waren nun gelb, in unterschiedlichen Nuancen.

Es heißt Steak braten, dachte Anna wütend. Sie klickte natürlich Petersilie trocknen und malte sich das Hacken der Petersilie gleich mit aus, während sie inständig hoffte, ihre Sehnsucht jetzt ad acta legen zu können. Sie empfand bereits keine mehr.

Anna, deine Sehnsucht in allen Ehren – aber was du jetzt brauchst, ist ein Müsli mit Birnen und Chia-Samen oder Kardamom-Brei“, spuckte die App aus. Na danke, sehr witzig. Anna wusste, dass dies eine kurzfristige Ablenkung der App war, während im Hintergrund daran gearbeitet wurde, ihre Bedürfnisse, auch unbewusste, zu entschlüsseln und ihr Dating zu optimieren.

Die App war Teil eines Blockchain-Identitätssystems. Das mit ihr entstehende soziale Netz sollte Solidarität und Verantwortung fördern. Vor Jahren war es zur Pflicht geworden und mittlerweile hatten es alle installiert.

Anna drehte sich zu ihrem Nachttisch, auf dem ihr Wecker penetrant wackelte. Es war kurz vor acht.

Anna schloss das ICH-Menü und öffnete ANDERE.

Im Hauptscreen des Menüs wurde Anna zunächst eine Liste von fünf Freunden, Bekannten angezeigt, mit denen sie in den letzten drei Monaten interagiert hatte, und die vor Kurzem auch mit Sehnsucht zu kämpfen hatten. Dann je ein Bild, Namen und ein [Nähe-Regler]. Sie sollte ihn verschieben, je nachdem, wie verbunden sie sich den Menschen gerade fühlte. Die Freunde liefen der Reihe nach durch. Abschließend die übliche Frage: „Um wen machst du dir gerade Sorgen?“ Sie konnte frei einen Namen eintippen, der dann vervollständigt wurde. Dies war ein kollektives Frühwarnsystem, so dass niemand durchs soziale Netz rutschte.

Sobald sich noch weitere Freude um die gleiche Person besorgt zeigten, sorgte ein Algorithmus dafür, dass eine ernsthafte Aufforderung verschickt wurde, um jene Person, um die man sich sorgte, tatsächlich zu kontaktieren, und schlug gar Aktivitäten und Termine vor. Anna reichte meist diese Nachfrage der App, um aktiv zu werden.

Sie schob die Bettdecke zur Seite, hievte sich auf, schnappte sich in der Küche eine Tasse Kaffee und schlich zurück ins Bett.

*pling
Oh, ihr guter Freund Oliver hatte einen [Konflikt] angemeldet. Auf Annas Display tauchte das ganz konstruktiv auf. Es blinkte ein leuchtendes [orangenes Herz], begleitet von dem Satz: „Anna, du bist Oliver sehr wichtig. Er möchte wissen, warum du letzten Freitag nicht da warst – obwohl du es vorhattest. Nimmst du dir 20 Minuten Zeit, das mit ihm zu klären? [Kalender] hat in der kommenden Woche drei mögliche Termine für ein [Resolving-Treffen] für euch gefunden.“

Das Miteinander sollte reibungsloser werden, vereinfacht. Ein Segen für Anna. Alles war eindeutiger geworden. Neben der App gab es unzählige, darauf aufsetzende privatwirtschaftliche Beziehungsoptimierungs-Tools – wie dieses, was Oliver jetzt zur Konfliktbewältigung heranzog. Resolving hieß das jetzt.

Anna hatte keine Lust, schon wieder mit Oliver ein anstrengendes Gespräch zu führen, nur weil sie, statt zu seiner WG-Party zu kommen, mit Lena in der Kneipe versackt war.

Anna war zu nett – das hatten ihre letzten Auswertungen ergeben. Hurting you is an option.

Jetzt kamen ihre Optionen. Ihre Auswahl lief auf eine unsichtbare Veränderung ihres Beziehungsstatus‘ mit Oliver hinaus, ihr [Vertrauensbarometer] würde sich verschieben und Anna würde Punkte bekommen, die sich auf alle ihre [Persönlichkeits-Indikatoren] auswirkten.

Deine Optionen: 
(1) Du bist mir egal. → Freundschaft stoppen / kein Meeting
(2) SHIT. Ich hab’s vergessen. Tut mir leid, verzeihst du mir? → Freundschaft on hold / Meeting
(3) UPPS. Ich hab’s echt vergessen. Stell dich nicht so an. → Freundschaft on hold / kein Meeting
(4) Interessantes anderes zu tun. → Freundschaft on hold / Meeting optional

Anna klickte auf die letzte Option. Das gäbe auch [Ehrlichkeits-Pluspunkte]. Als nächstes zeigte die App [Meeting-Optionen]: JA oder NEIN.

Okay, Oliver, aber lass uns über andere Dinge sprechen. Ein echter Reibungsverlust, diese Sich-Erklärerei, dachte Anna und klickte: JA. Es öffnete sich ein neuer Eingabe-Dialog:

Euer Treffen – wähle Details:
… WAS? [Drop-Down-Menüauswahl] Anna wählte Essen und Lachen
WO? [Maps-Eingabe] Anna wählte ihr Lieblingsrestaurant, nah für beide.
WANN? [Kalender-Optionen] Morgen nach der Arbeit oder: Samstag zum Frühstück.

Smooth! Mittlerweile lag Anna seit 20 Minuten wach und hantierte mit diesem Ding herum. Dusche, Müsli und noch ein Kaffee. Vor nur vier Jahren hatte sie sich morgens ebenso lange bei Instagram durch die verführenden Bildwelten geklickt.

*pling
Lena schickte eine Terminanfrage. Sie hatten sich versprochen, zusammen jonglieren zu lernen. Lena fragte, also [Kalender] und [Maps] fragten, ob übermorgen oder Sonntag im Stadtpark passen würde.

„Sonntag passt.“ *pling
[Freundschafts-Punkte. Disziplin-Punkte. Ein Kalendereintrag]

Wenn Beziehungen im [Nähe-Index] verschiedene Phasen überstanden hatten, das [Vertrauensbarometer] eine gewisse Höhe erreicht hatte und die Beziehung von anderen Freunden als liebevoll, haltbar und gesund betrachtet wurde, bekamen sie den Status: stabil. Und so kam es auch, dass man eines Tages eine Hochzeitserlaubnis erhielt, die vor kurzem – aus wissenschaftlichen Gründen – in [Ewigkeits-Erlaubnis] umbenannt wurde.

Anna und ihre Freundin Lena hatten vor drei Jahren eine solche erhalten. „Besties“ mit Ewigkeits-Erlaubnis. Lena lernte damals seit einer Weile zeichnen bzw. „sehen“, wie der erste Schritt in ihrem Buch es lehrte. Anna nannte es leicht belustigt „abpausen“, doch Lena pauste unbeirrt seit Jahren mit großer Leidenschaft die Natur ab; zu Menschen war sie noch nicht vorgedrungen. Die beiden hatten damals im Zoo gefeiert, bei den Elefanten. Sie hatten die treuen Dickhäuter gezeichnet, während sie den eingeschmuggelten Prosecco aus Emaille-Bechern tranken und die Option in eine Verbindlichkeit umwandelten.

Anna schloss die App, legte ihr Handy auf den Nachttisch, stand endlich auf und nahm den Tag in Angriff. Dieser Arbeitstag würde schnell vorbeigehen. Bereits gestern hatte sie sich überlegt, was sie anziehen würde.

Anna war aufgeregt, nach der Arbeit würde sie Jonas treffen. Er hatte dem [Resolving-Treffen], das sie angefordert hatte, zugestimmt. Anna wusste nicht, was passieren würde und hatte gefürchtet, Jonas würde es ignorieren und den Imageschaden, die [Punkteverluste] in Kauf nehmen. Doch… er hatte zugesagt. Ein Sozialheld.


 

Später, nach der Arbeit, war Anna wackelig auf den Beinen, als sie von ihrem Büro zu dem Restaurant lief, in dem sie mit Jonas verabredet war. Sie hatte dieses Treffen herbeigeführt mit ihrem Drängen – und so würde das Ganze sowieso kein gutes Ende mehr nehmen. Doch nun konnte sie es nicht mehr aufhalten.

Jonas saß bereits in dem kleinen mediterranen Restaurant als Anna in ihrem Sommermantel das Lokal betrat. Sie ging hinüber zu ihm, er stand auf und umarmte sie bedacht förmlich. Sie brauchten eine Weile bis das Gespräch sich lockerte. Jonas hörte ihr aufmerksam zu und sah Anna fasziniert, ja geradezu gebannt an, als sie von den Abenteuern der letzten Wochen berichtete.

Als beide hinausgingen, um nach dem griechischen Vorspeisenteller, der Anna bereits völlig gesättigt hatte, eine Zigarette zu rauchen, blickte Jonas sie schüchtern, schräg von der Seite an und sagte:
„Ich habe Angst, dass es die falschen Signale sendet, Anna, aber ich finde dich sehr toll…“. Anna guckte durch das Fenster in das gut besuchte Lokal und dann zu Jonas, der an der Fensterbank lehnte.

„Jonas, du hast es gerade gesagt…!“ – „Ich will dich nicht kirre machen, Anna.“

Sie schaute in seine irren Augen, drückte ihre Zigarette aus und ging wieder hinein.
Anna nahm ihre Sachen vom Stuhl und war froh, dass es die App gab. Toxic-End.

„Mensch Anna!“ Jonas war ihr hinterher gekommen. Sie setzten sich wieder an den Tisch.
„Es ist…meine Freundin…“

„Endlich sprichst du es aus. Ist sie nun deine Freundin, ja? Exklusiv? Dann sei mal ehrlich, erzähl ihr einfach von uns, oder…“ Anna zögerte.

„Oder, Anna?“ – „Kassiere ein schwarzes Herz von mir!“

Er grinste überlegen. „Von dir?“ – „Grrr, Jonas! Ich fühle mich wie eine Bank, ich sammle Schandtaten.“

„Anna, es ist so leicht dich zu verletzten“ – „Ja danke, das sehe ich! Mein Vorrat an schwarzen Herzen ist fast aufgebraucht.“ – „Dann gibt es ja bald Lobster, ich lad dich ein!“

Sie lachten. Anna schaute ihn an, verliebt. Weiterhin.
Hatte er das jetzt nochmal gebraucht? Ihre Zuneigung?

Sie stand verletzt auf, verließ das Lokal ohne sich nochmal umzudrehen und öffnete die App. Anna klickte hintereinander: Cancel Relationship Mute subject for 3 months. Dann schob sie die Regler neben dem Wort [Schmerz] auf etwas über die Hälfte, auf etwa 70. Und den darunter angezeigten [Ärger] auf 30.

Menschen, die außergewöhnlich viel Ärger und Schmerz auslösten, wurden geflaggt und erhielten soziale Schulungen und Trainings in gewaltfreier Kommunikation – das wurde streng gehandhabt.

Anna lief in Richtung des großen Parks, nahm ihr Telefon aus der Manteltasche und rief Lena an.

„Hey, treffen wir uns doch schon? Mein Gehirn will dringend jonglieren lernen…“
Die Spracherkennung hatte das Gesagte erkannt: [Intuitions-Punkte].

„Hey Anna, du klingst aber gar nicht gut… Leider habe ich wirklich keine Zeit jetzt.“ – „Schade, war ja auch ganz spontan.“
Hatte Lena durch ihre aufgesetzte gute Laune hindurch gehört?

„Ich…“ Anna schossen Tränen in die Augen.  „… muss auflegen.“

Sie lief am Getränkemarkt vorbei. Oliver anzurufen ging nun gerade auch nicht. Sie hatte den Konflikt mit ihm noch nicht geklärt.

Sie guckte kurz hoch in den Frühlingshimmel, öffnete das ICH-Menü und sah auf dem Display ihre Zukunft verändert: Keine Kinder. Wahrscheinlichkeit: 75%.

Sie steckte ihr Handy weg und guckte wieder in den Himmel, diesmal direkt in die Sonne. Als ihre Netzhaut begann zu brennen, schloss sie die Augen. Es wurde grell-hell und rot-warm durch ihre Lider hindurch. Als Anna die Augen wieder öffnete, saß Jonas neben ihr auf der Bank.

„Na, fertig geschmollt?“ Anna guckte verdutzt.

„…meine Freundin und ich, wir trennen uns gerade und ich brauche Zeit. So wäre der Satz weitergegangen, hättest du mich denn aussprechen…“ – „Hätte ich dich aussprechen lassen?!!“ unterbrach Anna Jonas erneut. „Du Schuft!!“

Jonas lächelte, rückte näher und küsste Anna sanft auf die Stirn.
„Wie viel Zeit?“ fragte sie leise, ihre Lippen ganz nah an seinen.

 


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