In immer mehr Lebensbereichen werden Daten erhoben und dazu verwendet, den Einzelnen zu bewerten. Die Entwicklung kann auch zu neuen Spielarten der Benachteiligung und Ungleichheit führen, sagt der Soziologe Steffen Mau im Interview.
Sie sehen die Verbreitung von Tracking und Scoring als Teil einer „Quantifizierung des Sozialen“. Was verstehen Sie darunter?
Damit meine ich, dass immer mehr Aspekte, Phänomene und Eigenschaften von Personen in quantitative Daten übersetzt werden. Daten haben natürlich schon immer eine wichtige Rolle gespielt, denken Sie an die Wissenschaft, die Wirtschaft oder staatliche Statistiken. Nun werden auch Informationen, die einst als privat oder sogar intim galten, viel stärker kommerziell oder auch in politischen Kontexten genutzt. Hier gibt es einen Qualitätssprung.
Diese Entwicklung zeigt sich etwa auch an der Verbreitung von Ratings, von Bewertungsplattformen oder dem Trend zur Selbstvermessung im Sport oder im Gesundheitsbereich. Es geht dabei immer darum, Daten über das Individuum zu generieren und mit diesen Daten neuartige Bewertungsvorgänge stattfinden zu lassen.
Bewertungen und Scores werden dabei zu Unterscheidungszeichen: Sie stellen nicht dar, dass wir alle gleich sind, sondern dass wir numerische Differenzen aufweisen. Wie risikoreich verhalten Sie sich? Wie mobil sind Sie? Wie sportlich aktiv sind Sie? Viele dieser Daten werden dann weiterverwendet, um Sie mit Werbung und Konsumangeboten anzusprechen oder Sie in irgendeiner Weise zu klassifizieren.
Ich würde zwei wesentliche Antriebskräfte nennen. Erstens gibt es einen zunehmenden Prozess der Ökonomisierung aller Lebensbereiche – von den Hochschulen bis zu Kindertagesstätten. Steuerung läuft hier nicht mehr über Hierarchie und Kommandogewalt, sondern über Performance-Indikatoren, Leistungsmessungen, Datenerfassungen und dergleichen. Damit einher geht ein Gebot der Transparenz, dem man sich kaum verschließen kann. Transparenz ist positiv konnotiert, aber die Kehrseite ist vollständige Überwachung und Kontrolle.
Zweitens gibt es den gesellschaftlichen Prozess der Digitalisierung, der als Treiber wirkt. Erst jetzt gibt es eine technologische Infrastruktur, die es erlaubt, über jeden Aspekt unseres Lebens Daten zu sammeln, zu speichern und verfügbar zu machen. Diese Daten können dann wiederum für Bewertungen und Klassifikationen eingesetzt werden.
„Universalisierung des Wettbewerbs“ durch Scoring
Ist das gut oder schlecht? Es gibt etwa neue Kreditanbieter, die alle möglichen Daten über das Verhalten oder aus sozialen Netzwerken auswerten wollen. Sie sagen, so könne jemand einen Kredit bekommen, der ihn auf der Basis einiger weniger Daten vielleicht nicht bekommen hätte.
Zunächst einmal heißt ja die Verfügbarkeit solcher Daten, dass immer mehr Aspekte des Lebens vergleichbar gemacht werden. Dieser Vergleichbarkeit wohnt etwas inne, das man die Universalisierung des Wettbewerbs nennen könnte. Wir werden permanent in solche Kontexte gesetzt.
Das ist weder per se gerecht noch ungerecht. Es führt aber zu einer neuen Form der Ungleichheit, zu einer Hierarchisierung der Gesellschaft, die am Individuum ansetzt. Wer die besseren Daten mitbringt, wird auch die besseren Kreditangebote, die besseren Versicherungen oder die besseren Konsumchancen bekommen. Jemand anderes wiederum wird mit Aufschlägen bestraft.
Wo zeigt sich diese neue Ungleichheit noch?
Eine Kollegin von mir, Virginia Eubanks, hat zum Beispiel Sozialhilfeempfänger in den USA untersucht. Sie sind in eine Art digitales Armenhaus geraten, aus dem sie nicht mehr entkommen können. Aufgrund ihrer Daten erhalten sie keinen Zugang zu einer Gesundheitsversicherung, einer Wohnung, Krediten oder einem Mobiltelefon.
Die Daten werden zwischen unterschiedlichen Behörden und Unternehmen weitergereicht und sorgen für eine Stigmatisierung, der man nicht mehr entkommen kann. Das heißt: Eine Benachteiligung, die früher vielleicht auf einen bestimmten Lebensbereich beschränkt gewesen ist, weitet sich jetzt aus, wenn die Daten in andere Bereiche übertragen werden.
Ein weiteres Problem sind falsche Klassifikationen durch Algorithmen, wie sie häufig vorkommen. Wer fälschlich als Risikoperson eingestuft wird, hat kaum Möglichkeiten, dagegen Einspruch zu erheben, weil die Vorgänge extrem intransparent sind.
„Daten erschaffen ein Bild der Wirklichkeit“
Daten und Scores könnten doch auch sachlichere Bewertungen ermöglichen. Oder ist das ein Trugbild?
Daten zeichnet etwas aus, das ich „kaltes Charisma“ nennen würde. Sie erscheinen uns objektiv und neutral eine Realität widerzuspiegeln, die unabhängig vom Beobachter existiert. Aber gleichzeitig sind sie sehr selektive Konstruktionen der Wirklichkeit. Sie schaffen ein Bild der Wirklichkeit, das vorher nicht so dagewesenist.
Was für ein Bild entsteht da?
Stellen Sie sich vor, dass Sie online regelmäßig ein Medikament beziehen, das darauf schließen lässt, dass Ihre Lebenserwartung nicht so hoch ist wie bei Menschen, die es nicht beziehen. Vielleicht bestellen Sie es auch für einen Dritten. Wenn Sie aufgrund dieser Daten bewertet werden, werden Aspekte Ihrer Person einbezogen, von denen wir im Normalfall vielleicht gerne abstrahieren würden.
Oder denken Sie an Versicherungen. Versicherte werden in Risikokollektiven zusammengefasst, in denen sich hohe und geringe Risiken ausgleichen. Das ist ja zum Beispiel der Sinn einer Krankenversicherung: Nicht für jedes Risiko, das Ihnen im Leben begegnet, zahlen Sie den vollen Marktpreis – etwa für die Behandlung chronischer Krankheiten.
Wenn wir das nicht machen und jeder permanent aufgrund seiner Daten bewertet wird, dann sind wir unablässig und vollständig allen Marktbewertungen unterworfen. Die Grenzen zwischen dem, was Märkte tun und dem, was wir im Bereich des Privaten verorten würden, wären hinfällig.
„Digitale Statusarbeit“: Wer mitmachen will, braucht gute Daten
Wie verändert sich unser Verhalten, wenn wir erwarten, dass es irgendwo gespeichert wird und beispielsweise zu einer Bewertung führt?
Es entsteht so etwas wie digitale Statusarbeit. Man könnte auch Arbeit am Reputationskapital dazu sagen: Sie sind darauf angewiesen, dass Sie über gute Daten verfügen, um bei Aktivitäten, die Ihnen wichtig sind, mitzumachen.
Wenn Sie beispielsweise in den USA einen Babysitter oder eine Babysitterin engagieren wollen, dann werden Sie auf Webseiten verwiesen, die sogenannte Reputations-Scores ausweisen. Das ist ja auch erst einmal sinnvoll. Als Elternteil möchte man natürlich keine Personen ins Haus holen, über die man gar nichts weiß.
Aber hier wird im Prinzip alles gesammelt, was über diese Person zu finden ist: Profile in sozialen Netzwerken, frühere Straftaten, Waffenbesitz, Immobilienbesitz oder wo jemand gewohnt hat. All das wird zu einem einheitlichen Score zusammengeführt, der ausweist, ob jemand als vertrauenswürdig gilt. Bislang verlassen wir uns im Alltag oft auf unser Bauchgefühl. Hier würden Sie eine Person, die einen niedrigen Score hat, gar nicht erst engagieren.
Auch solche Scores sind Konstruktionen, die bestimmte Ausschnitte einer Realität zusammenführen. Man muss sich dann darum kümmern, dass die eigenen Zahlen auch stimmen und man nirgendwo schlecht abschneidet – je nachdem, was in diese Bewertungssysteme eingeschrieben ist.
Wie weit das gehen kann, zeigt der Social Credit Score in China. Alle möglichen on- und offline verfügbaren Daten fließen in einen Wert über das Wohlverhalten eines Bürgers ein. Wer einen niedrigen Wert hat, kann etwa Tickets für bestimmte Flugzeuge oder Züge nicht mehr kaufen, wird also von Mobilitätsmöglichkeiten ausgeschlossen, sodass sich jeder bemühen muss, sich anzupassen und anzustrengen.
Ein solcher Score kann die Möglichkeiten der individuellen Entfaltung, der Realisierung von Lebensplänen natürlich massiv einschränken. In westlichen Ländern ist das gewiss nicht so extrem ausgeprägt. Aber auch hierzulande richten Menschen ihr Handeln zunehmend an der Notwendigkeit aus, mit guten Zahlen zu glänzen.
„Scores können zu völlig paradoxen Ergebnissen führen“
Gibt es hier eine Art neuer Datengläubigkeit?
Ja, es gibt schon einen gewissen Zahlenkult, dem wir uns hingegeben haben. Zahlen sind unglaublich attraktiv, weil sie den Nimbus der Objektivität besitzen und die Dinge vergleichbar machen.
Die Kehrseite zeigt sich, wenn andere, qualitative Bewertungsformen marginalisiert werden. Man kann es dann nicht mehr so oder so sehen, man muss keine Gründe für eine Bewertung mehr angeben, sondern nur den Score oder das Ranking.
Ist unser Verhalten so einfach über Scores steuerbar? Manche werden etwa versuchen, das Bewertungssystem zu überlisten.
Es gibt tatsächlich immer solche Versuche des „Gaming the System“, also eines kreativen, manchmal manipulativen Umgangs mit dem Zahlenkorsett, in dem man eigentlich steckt. Denn Scores als Konstrukt sind selten deckungsgleich mit dem Verhalten, das sie messen sollen. Wenn sie Verhaltensveränderungen auslösen, tun sie das nicht zwingend im Hinblick auf das dahinterliegende Ziel, sondern im Hinblick auf den gemessenen Zielindikator. Beide sind aber nicht identisch.
Ein Beispiel?
Nehmen Sie etwa Polizisten, deren Leistung daran gemessen wird, wie viele Verhaftungen sie durchführen. Ein Polizist kann diese Zahl zum Teil sehr kreativ beeinflussen. Scores können auch zu völlig paradoxen Ergebnissen führen. Wenn zum Beispiel ein Gesetz geändert und eine Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird, fallen die Leistungswerte schlechter aus. Weniger Kriminalität wird aus Sicht der Polizisten zu einer negativen Entwicklung, weil die Performance sinkt.
Solche Dynamiken lassen sich in fast in allen Arbeitskontexten beobachten. Etwa bei Pflegetätigkeiten. Es gibt Pflege-Apps, die jeden Arbeitsschritt detailliert erfassen und in zeitliche Einheiten umrechnen. Andere Qualitäten – sich mal Zeit nehmen, sich im rechten Moment zu einem Patienten setzen – werden nicht gemessen, auch wenn sie für die Qualität dieser Tätigkeit entscheidend sind. Was in diesem Indikatoren- und Datensystem nicht auftaucht, wird wahrscheinlich deutlich weniger stattfinden.
In immer mehr Lebensbereichen werden Daten erhoben und dazu verwendet, den Einzelnen zu bewerten. Die Entwicklung kann auch zu neuen Spielarten der Benachteiligung und Ungleichheit führen, sagt der Soziologe Steffen Mau im Interview.
Sie sehen die Verbreitung von Tracking und Scoring als Teil einer „Quantifizierung des Sozialen“. Was verstehen Sie darunter?
Damit meine ich, dass immer mehr Aspekte, Phänomene und Eigenschaften von Personen in quantitative Daten übersetzt werden. Daten haben natürlich schon immer eine wichtige Rolle gespielt, denken Sie an die Wissenschaft, die Wirtschaft oder staatliche Statistiken. Nun werden auch Informationen, die einst als privat oder sogar intim galten, viel stärker kommerziell oder auch in politischen Kontexten genutzt. Hier gibt es einen Qualitätssprung.
Diese Entwicklung zeigt sich etwa auch an der Verbreitung von Ratings, von Bewertungsplattformen oder dem Trend zur Selbstvermessung im Sport oder im Gesundheitsbereich. Es geht dabei immer darum, Daten über das Individuum zu generieren und mit diesen Daten neuartige Bewertungsvorgänge stattfinden zu lassen.
Bewertungen und Scores werden dabei zu Unterscheidungszeichen: Sie stellen nicht dar, dass wir alle gleich sind, sondern dass wir numerische Differenzen aufweisen. Wie risikoreich verhalten Sie sich? Wie mobil sind Sie? Wie sportlich aktiv sind Sie? Viele dieser Daten werden dann weiterverwendet, um Sie mit Werbung und Konsumangeboten anzusprechen oder Sie in irgendeiner Weise zu klassifizieren.
Wie kommt es zu dieser Entwicklung?
Ich würde zwei wesentliche Antriebskräfte nennen. Erstens gibt es einen zunehmenden Prozess der Ökonomisierung aller Lebensbereiche – von den Hochschulen bis zu Kindertagesstätten. Steuerung läuft hier nicht mehr über Hierarchie und Kommandogewalt, sondern über Performance-Indikatoren, Leistungsmessungen, Datenerfassungen und dergleichen. Damit einher geht ein Gebot der Transparenz, dem man sich kaum verschließen kann. Transparenz ist positiv konnotiert, aber die Kehrseite ist vollständige Überwachung und Kontrolle.
Zweitens gibt es den gesellschaftlichen Prozess der Digitalisierung, der als Treiber wirkt. Erst jetzt gibt es eine technologische Infrastruktur, die es erlaubt, über jeden Aspekt unseres Lebens Daten zu sammeln, zu speichern und verfügbar zu machen. Diese Daten können dann wiederum für Bewertungen und Klassifikationen eingesetzt werden.
„Universalisierung des Wettbewerbs“ durch Scoring
Ist das gut oder schlecht? Es gibt etwa neue Kreditanbieter, die alle möglichen Daten über das Verhalten oder aus sozialen Netzwerken auswerten wollen. Sie sagen, so könne jemand einen Kredit bekommen, der ihn auf der Basis einiger weniger Daten vielleicht nicht bekommen hätte.
Zunächst einmal heißt ja die Verfügbarkeit solcher Daten, dass immer mehr Aspekte des Lebens vergleichbar gemacht werden. Dieser Vergleichbarkeit wohnt etwas inne, das man die Universalisierung des Wettbewerbs nennen könnte. Wir werden permanent in solche Kontexte gesetzt.
Das ist weder per se gerecht noch ungerecht. Es führt aber zu einer neuen Form der Ungleichheit, zu einer Hierarchisierung der Gesellschaft, die am Individuum ansetzt. Wer die besseren Daten mitbringt, wird auch die besseren Kreditangebote, die besseren Versicherungen oder die besseren Konsumchancen bekommen. Jemand anderes wiederum wird mit Aufschlägen bestraft.
Wo zeigt sich diese neue Ungleichheit noch?
Eine Kollegin von mir, Virginia Eubanks, hat zum Beispiel Sozialhilfeempfänger in den USA untersucht. Sie sind in eine Art digitales Armenhaus geraten, aus dem sie nicht mehr entkommen können. Aufgrund ihrer Daten erhalten sie keinen Zugang zu einer Gesundheitsversicherung, einer Wohnung, Krediten oder einem Mobiltelefon.
Die Daten werden zwischen unterschiedlichen Behörden und Unternehmen weitergereicht und sorgen für eine Stigmatisierung, der man nicht mehr entkommen kann. Das heißt: Eine Benachteiligung, die früher vielleicht auf einen bestimmten Lebensbereich beschränkt gewesen ist, weitet sich jetzt aus, wenn die Daten in andere Bereiche übertragen werden.
Ein weiteres Problem sind falsche Klassifikationen durch Algorithmen, wie sie häufig vorkommen. Wer fälschlich als Risikoperson eingestuft wird, hat kaum Möglichkeiten, dagegen Einspruch zu erheben, weil die Vorgänge extrem intransparent sind.
„Daten erschaffen ein Bild der Wirklichkeit“
Daten und Scores könnten doch auch sachlichere Bewertungen ermöglichen. Oder ist das ein Trugbild?
Daten zeichnet etwas aus, das ich „kaltes Charisma“ nennen würde. Sie erscheinen uns objektiv und neutral eine Realität widerzuspiegeln, die unabhängig vom Beobachter existiert. Aber gleichzeitig sind sie sehr selektive Konstruktionen der Wirklichkeit. Sie schaffen ein Bild der Wirklichkeit, das vorher nicht so dagewesenist.
Was für ein Bild entsteht da?
Stellen Sie sich vor, dass Sie online regelmäßig ein Medikament beziehen, das darauf schließen lässt, dass Ihre Lebenserwartung nicht so hoch ist wie bei Menschen, die es nicht beziehen. Vielleicht bestellen Sie es auch für einen Dritten. Wenn Sie aufgrund dieser Daten bewertet werden, werden Aspekte Ihrer Person einbezogen, von denen wir im Normalfall vielleicht gerne abstrahieren würden.
Oder denken Sie an Versicherungen. Versicherte werden in Risikokollektiven zusammengefasst, in denen sich hohe und geringe Risiken ausgleichen. Das ist ja zum Beispiel der Sinn einer Krankenversicherung: Nicht für jedes Risiko, das Ihnen im Leben begegnet, zahlen Sie den vollen Marktpreis – etwa für die Behandlung chronischer Krankheiten.
Wenn wir das nicht machen und jeder permanent aufgrund seiner Daten bewertet wird, dann sind wir unablässig und vollständig allen Marktbewertungen unterworfen. Die Grenzen zwischen dem, was Märkte tun und dem, was wir im Bereich des Privaten verorten würden, wären hinfällig.
„Digitale Statusarbeit“: Wer mitmachen will, braucht gute Daten
Wie verändert sich unser Verhalten, wenn wir erwarten, dass es irgendwo gespeichert wird und beispielsweise zu einer Bewertung führt?
Es entsteht so etwas wie digitale Statusarbeit. Man könnte auch Arbeit am Reputationskapital dazu sagen: Sie sind darauf angewiesen, dass Sie über gute Daten verfügen, um bei Aktivitäten, die Ihnen wichtig sind, mitzumachen.
Wenn Sie beispielsweise in den USA einen Babysitter oder eine Babysitterin engagieren wollen, dann werden Sie auf Webseiten verwiesen, die sogenannte Reputations-Scores ausweisen. Das ist ja auch erst einmal sinnvoll. Als Elternteil möchte man natürlich keine Personen ins Haus holen, über die man gar nichts weiß.
Aber hier wird im Prinzip alles gesammelt, was über diese Person zu finden ist: Profile in sozialen Netzwerken, frühere Straftaten, Waffenbesitz, Immobilienbesitz oder wo jemand gewohnt hat. All das wird zu einem einheitlichen Score zusammengeführt, der ausweist, ob jemand als vertrauenswürdig gilt. Bislang verlassen wir uns im Alltag oft auf unser Bauchgefühl. Hier würden Sie eine Person, die einen niedrigen Score hat, gar nicht erst engagieren.
Auch solche Scores sind Konstruktionen, die bestimmte Ausschnitte einer Realität zusammenführen. Man muss sich dann darum kümmern, dass die eigenen Zahlen auch stimmen und man nirgendwo schlecht abschneidet – je nachdem, was in diese Bewertungssysteme eingeschrieben ist.
Wie weit das gehen kann, zeigt der Social Credit Score in China. Alle möglichen on- und offline verfügbaren Daten fließen in einen Wert über das Wohlverhalten eines Bürgers ein. Wer einen niedrigen Wert hat, kann etwa Tickets für bestimmte Flugzeuge oder Züge nicht mehr kaufen, wird also von Mobilitätsmöglichkeiten ausgeschlossen, sodass sich jeder bemühen muss, sich anzupassen und anzustrengen.
Ein solcher Score kann die Möglichkeiten der individuellen Entfaltung, der Realisierung von Lebensplänen natürlich massiv einschränken. In westlichen Ländern ist das gewiss nicht so extrem ausgeprägt. Aber auch hierzulande richten Menschen ihr Handeln zunehmend an der Notwendigkeit aus, mit guten Zahlen zu glänzen.
„Scores können zu völlig paradoxen Ergebnissen führen“
Gibt es hier eine Art neuer Datengläubigkeit?
Ja, es gibt schon einen gewissen Zahlenkult, dem wir uns hingegeben haben. Zahlen sind unglaublich attraktiv, weil sie den Nimbus der Objektivität besitzen und die Dinge vergleichbar machen.
Die Kehrseite zeigt sich, wenn andere, qualitative Bewertungsformen marginalisiert werden. Man kann es dann nicht mehr so oder so sehen, man muss keine Gründe für eine Bewertung mehr angeben, sondern nur den Score oder das Ranking.
Ist unser Verhalten so einfach über Scores steuerbar? Manche werden etwa versuchen, das Bewertungssystem zu überlisten.
Es gibt tatsächlich immer solche Versuche des „Gaming the System“, also eines kreativen, manchmal manipulativen Umgangs mit dem Zahlenkorsett, in dem man eigentlich steckt. Denn Scores als Konstrukt sind selten deckungsgleich mit dem Verhalten, das sie messen sollen. Wenn sie Verhaltensveränderungen auslösen, tun sie das nicht zwingend im Hinblick auf das dahinterliegende Ziel, sondern im Hinblick auf den gemessenen Zielindikator. Beide sind aber nicht identisch.
Ein Beispiel?
Nehmen Sie etwa Polizisten, deren Leistung daran gemessen wird, wie viele Verhaftungen sie durchführen. Ein Polizist kann diese Zahl zum Teil sehr kreativ beeinflussen. Scores können auch zu völlig paradoxen Ergebnissen führen. Wenn zum Beispiel ein Gesetz geändert und eine Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird, fallen die Leistungswerte schlechter aus. Weniger Kriminalität wird aus Sicht der Polizisten zu einer negativen Entwicklung, weil die Performance sinkt.
Solche Dynamiken lassen sich in fast in allen Arbeitskontexten beobachten. Etwa bei Pflegetätigkeiten. Es gibt Pflege-Apps, die jeden Arbeitsschritt detailliert erfassen und in zeitliche Einheiten umrechnen. Andere Qualitäten – sich mal Zeit nehmen, sich im rechten Moment zu einem Patienten setzen – werden nicht gemessen, auch wenn sie für die Qualität dieser Tätigkeit entscheidend sind. Was in diesem Indikatoren- und Datensystem nicht auftaucht, wird wahrscheinlich deutlich weniger stattfinden.